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R e q u i e m
Alle, die sich im Leben begegnen, müssen
mit aller Bestimmtheit wieder auseinandergehen. Issa
Als ich heute Morgen das Fenster öffnete, brach plötzlich
der in der Nacht aufgehäufte Schnee vom Fensterbrett und
fiel lautlos die vier Stockwerke in den Hof hinab. Zum erstenmal
seit langem, erinnerte ich mich wieder ihrer knospenhaften Scheu
und mir war, als wurde ich durch die frostige Luft von ihrer
Hand berührt. Doch außer dem gedämpften Rollen
vereinzelter Autos von der Straße her, blieb alles regungslos
und still zu dieser frühen Stunde. Ich ging an den Kühlschrank,
goß Milch in ein Glas, schob den Stuhl unter das Fenster und
begann zu rauchen. Niemals zuvor hatte ich so deutlich ihr
Gesicht vor mir gesehen, als in jenen Minuten, da ich auf das
schneebedeckte Dach des gegenüberliegenden Hauses starrte.
Der Rest der Zigarette verlosch im Schnee. Ich holte aus dem
Zimmer ihren in einem Umschlag verstauten Brief und die einzige
Fotografie, die ich noch besaß, hervor. Erneut begann es in
dichten Flocken zu schneien und ich legte das Foto auf die Fensterbank
und sah dabei zu, wie ihr Gesicht unter den hingeworfenen, weißen
Klumpen allmählich verschwand. Auf dem etwa foliogroßen
Schwarzweißbild wurde zuerst ein Auge und ihr gescheiteltes
Haar bedeckt, bald danach aber war alles, wie mit auf den Sarg
prasselnder Erde, überhäuft. Ich schloß das Fenster
und wartete auf das Ende des Schneefalles.
Ihr Anruf kam Abends, kaum drei Monate nach der Trennung und
sie gab mir die Adresse einer Nervenklinik an. Ich fragte am
Telefon nicht nach Einzelheiten, zu zögerlich schien mir ihre
Stimme und so groß waren die Pausen zwischen den wenigen
Sätzen, daß unser eigentümliches Gespräch
war, als ob weit voneinander entfernt zwei Menschen, ohne es zu
wissen, sich Muscheln an die Ohren hielten und durch das Rauschen
hindurch die Stimme des anderen suchten.
...
...
Sie hockte sich nieder und im kurzen Aufflackern des Streichholzes
sah ich ihr Gesicht. Aber auch mit dem zweiten und dritten Versuch
verlosch die schmale Flamme in ihren schützenden Händen.
Sie zitterte vor Aufregung. Ich beugte mich über sie, ergriff
ihre Handgelenke und wir stießen das Streichholz in das
Papiertaschentuch. Kaum, daß der erste Feuerstoß verebbt
war, quoll nur noch Rauch aus der Holzkonstruktion. Erst, nachdem
wir unbeirrt weiter in den Qualm bliesen, wanden sich ein paar
zarte Flammen an den Zweigen empor. ”Gleich brennt es, sieh doch
nur!” und schnell erfaßten die kaum lebensfähigen
Flammen auch das übrige Geäst. Da erschien sie mir plötzlich
wie ein angstvoll Feuer witterndes Tier, eingeschlossen in der sich
von allen Seiten nähernden Hitze. ”Meinst du, ich kann
jetzt schon die Kartoffeln hineinlegen?” Ich stocherte die erste,
frische Glut zusammen. ”Ja, ich glaube es ist soweit.”
Sie legte die in Metallfolie eingeschlagenen Kartoffeln wie
Eier in ein Nest. In der Hitze knisterten die silbrigen Inseln und
kleine, bläuliche Fäden zitterten mit den mächtigen
Flammen auf. "Hier dein Brotstock.” - ”Soll ich gleich zwei
aufspießen?” Versunken wendete sie die Brotscheiben. ”Sitzt
du nicht zu dicht dran?” - ”Wie bitte?” fragte sie sanft. ”Ist dir
nicht heiß?” - ”O, ja, habe ich gar nicht bemerkt.” Auf
den Knieen schob sie sich rückwärts vom Feuer weg,
wobei die schmale Silhouette lautlos im Dickicht der Dunkelheit
zu verschwinden drohte. Es war, als ob heimlich ein Geist in
sie hineinschlüpfte. ”Woran hast du gerade gedacht?” - ”Ach,
ich weiß auch nicht, ” sagte sie, ”manchmal fürchte
ich mich geradezu vor dem Feuer, obwohl ich immer hinstarren muß.”
”Vielleicht erinnert es dich... " - "... an Schnee! Ich
verstehe es selber nicht, aber ich sehe immer nur den langsam
alles bedeckenden Schnee vor mir. Seltsam, was?” - ”Ich glaube,
das Brot ist jetzt dunkel genug.” - ”Es ist ja schon schwarz;
warum hast du denn nichts gesagt?” - ”Ich habe über dich
und den Schnee nachgedacht.” - ”Siehst du ihn denn auch darin?”
- ”Nein, aber ich weiß, daß man barfuß durch
beides gehen kann.” Wir kratzten die dampfende Folie von den
Kartoffeln, tranken und aßen und bis das Feuer vollkommen
heruntergebrannt war, wechselten wir stumm noch mehrmals die Plätze
um diesen magischen Kreis. Entweder stand ich rauchend und sie
schlang die Arme um ihre angewinkelten Knie, oder wir saßen
aneinander gelehnt und hörten den Stimmen von Wind, Feuer
und Vogel zu, oder sie verschwand im Haus und ich schob das
glühende Holz zusammen, oder sie zündete sich eine Zigarette
an und wir standen uns gegenüber und unser Atem traf sich
in den hinaufwirbelnden Funken, oder sie legte schon müde
den Kopf auf meine Schulter und ich spürte die Hitze ihres
Gesichtes und wir erwachten erst mit den einsetzenden
Vogelrufen am Morgen wieder. Fröstelnd standen wir auf. Neben
unseren miteinander verbundenen Abdrücken, die die Körper
auf dem Gras hinterließen, glänzte der Tau. Vor uns lag
der schwarze, verblühte Haufen Holz. ”Wir sind ja einfach
eingeschlafen!” rief sie erstaunt.
...
...
Auf dem Tisch im Zimmer stand das in durchsichtiger Folie eingeschweißte
Essen; zwei Scheiben Brot, der Käse und die Margarine in
spielzeuggroßen Verpackungen. Doch nur den obenauf liegenden
Apfel griff sie und biß sogleich davon ab. Dann schien
sie die Tabletten im Medikamentenschälchen nachzu- zählen,
schüttete ruckartig, mit zurückgeworfenem Kopf, die Pillen
in sich hinein, spülte mit kaltem Tee alles auf einmal
hinunter und drehte sich nach mir um. ”Willst du auch was essen?”
wich sie aus. ”Nein, laß nur. . . ” - ”Ach, komm, du
hast doch den ganzen Nachmittag nichts gegessen; ich schmiere
dir schnell ein Brot mit.” Schon riß sie mit den schlanken
Fingern die Folien geübt auf, entnahm das Plastikbesteck
und bestrich die dünnen Scheiben. ”Fertig!” rief sie, als wäre
ihr etwas Seltenes noch einmal geglückt. Der achtlos zusammengeschobene
Müll lag neben ihr auf dem Tisch. Mit dem linken Unterarm
fegte ich plötzlich alles davon und ging fort. Noch Stunden
später streifte ich durch den Anstaltspark und blickte
zu ihrem erleuchteten Fenster auf, ehe ich von der Telefonkabine
in der Vorhalle noch einmal mit ihr sprach. Fast meinte ich
das einsame Schrillen des Telefons durch die Wände geistern
zu hören. ”Ja, hallo?” - ”. . . ” - ”Wer ist denn da?” - ”.
. . ” - ”Aber was war denn vorhin mit dir los?”
...
Auszüge aus " Requiem "
© Thomas Werk · 1998 |