Thomas  Werk

 

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R e q u i e m

 

Alle, die sich im Leben begegnen,
müssen mit aller Bestimmtheit wieder
auseinandergehen.                      Issa

 

Als ich heute Morgen das Fenster öffnete, brach plötzlich der in der Nacht aufgehäufte Schnee
vom Fensterbrett und fiel lautlos die vier Stockwerke in den Hof hinab.
Zum erstenmal seit langem, erinnerte ich mich wieder ihrer knospenhaften Scheu und mir war,
als wurde ich durch die frostige Luft von ihrer Hand berührt. Doch außer dem gedämpften Rollen
vereinzelter Autos von der Straße her, blieb alles regungslos und still zu dieser frühen Stunde.
Ich ging an den Kühlschrank, goß Milch in ein Glas, schob den Stuhl unter das Fenster und
begann zu rauchen. Niemals zuvor hatte ich so deutlich ihr Gesicht vor mir gesehen, als in jenen
Minuten, da ich auf das schneebedeckte Dach des gegenüberliegenden Hauses starrte. Der Rest
der Zigarette verlosch im Schnee. Ich holte aus dem Zimmer ihren in einem Umschlag verstauten
Brief und die einzige Fotografie, die ich noch besaß, hervor. Erneut begann es in dichten Flocken
zu schneien und ich legte das Foto auf die Fensterbank und sah dabei zu, wie ihr Gesicht unter
den hingeworfenen, weißen Klumpen allmählich verschwand. Auf dem etwa foliogroßen
Schwarzweißbild wurde zuerst ein Auge und ihr gescheiteltes Haar bedeckt, bald danach aber war
alles, wie mit auf den Sarg prasselnder Erde, überhäuft. Ich schloß das Fenster und wartete auf
das Ende des Schneefalles.

Ihr Anruf kam Abends, kaum drei Monate nach der Trennung und sie gab mir die Adresse einer
Nervenklinik an. Ich fragte am Telefon nicht nach Einzelheiten, zu zögerlich schien mir ihre Stimme
und so groß waren die Pausen zwischen den wenigen Sätzen, daß unser eigentümliches Gespräch
war, als ob weit voneinander entfernt zwei Menschen, ohne es zu wissen, sich Muscheln an die Ohren
hielten und durch das Rauschen hindurch die Stimme des anderen suchten.

...

...

Sie hockte sich nieder und im kurzen Aufflackern des Streichholzes sah ich ihr Gesicht. Aber auch
mit dem zweiten und dritten Versuch verlosch die schmale Flamme in ihren schützenden Händen.
Sie zitterte vor Aufregung. Ich beugte mich über sie, ergriff ihre Handgelenke und wir stießen das
Streichholz in das Papiertaschentuch. Kaum, daß der erste Feuerstoß verebbt war, quoll nur noch
Rauch aus der Holzkonstruktion. Erst, nachdem wir unbeirrt weiter in den Qualm bliesen, wanden
sich ein paar zarte Flammen an den Zweigen empor. ”Gleich brennt es, sieh doch nur!” und schnell
erfaßten die kaum lebensfähigen Flammen auch das übrige Geäst. Da erschien sie mir plötzlich
wie ein angstvoll Feuer witterndes Tier, eingeschlossen in der sich von allen Seiten nähernden Hitze.
”Meinst du, ich kann jetzt schon die Kartoffeln hineinlegen?” Ich stocherte die erste, frische Glut
zusammen. ”Ja, ich glaube es ist soweit.” Sie legte die in Metallfolie eingeschlagenen Kartoffeln
wie Eier in ein Nest. In der Hitze knisterten die silbrigen Inseln und kleine, bläuliche Fäden zitterten
mit den mächtigen Flammen auf. "Hier dein Brotstock.” - ”Soll ich gleich zwei aufspießen?” Versunken
wendete sie die Brotscheiben. ”Sitzt du nicht zu dicht dran?” - ”Wie bitte?” fragte sie sanft. ”Ist dir
nicht heiß?” - ”O, ja, habe ich gar nicht bemerkt.” Auf den Knieen schob sie sich rückwärts vom Feuer
weg, wobei die schmale Silhouette lautlos im Dickicht der Dunkelheit zu verschwinden drohte. Es war,
als ob heimlich ein Geist in sie hineinschlüpfte. ”Woran hast du gerade gedacht?” - ”Ach, ich weiß auch
nicht, ” sagte sie, ”manchmal fürchte ich mich geradezu vor dem Feuer, obwohl ich immer hinstarren muß.”
”Vielleicht erinnert es dich... " - "... an Schnee! Ich verstehe es selber nicht, aber ich sehe immer nur
den langsam alles bedeckenden Schnee vor mir. Seltsam, was?” - ”Ich glaube, das Brot ist jetzt
dunkel genug.” - ”Es ist ja schon schwarz; warum hast du denn nichts gesagt?” - ”Ich habe über dich
und den Schnee nachgedacht.” - ”Siehst du ihn denn auch darin?” - ”Nein, aber ich weiß, daß man barfuß
durch beides gehen kann.”
Wir kratzten die dampfende Folie von den Kartoffeln, tranken und aßen und bis das Feuer vollkommen
heruntergebrannt war, wechselten wir stumm noch mehrmals die Plätze um diesen magischen Kreis.
Entweder stand ich rauchend und sie schlang die Arme um ihre angewinkelten Knie, oder wir saßen
aneinander gelehnt und hörten den Stimmen von Wind, Feuer und Vogel zu, oder sie verschwand im
Haus und ich schob das glühende Holz zusammen, oder sie zündete sich eine Zigarette an und wir
standen uns gegenüber und unser Atem traf sich in den hinaufwirbelnden Funken, oder sie legte schon
müde den Kopf auf meine Schulter und ich spürte die Hitze ihres Gesichtes und wir erwachten erst  mit
den einsetzenden Vogelrufen am Morgen wieder. Fröstelnd standen wir auf. Neben unseren miteinander
verbundenen Abdrücken, die die Körper auf dem Gras hinterließen, glänzte der Tau. Vor uns lag der
schwarze, verblühte Haufen Holz. ”Wir sind ja einfach eingeschlafen!” rief sie erstaunt.

...

...

Auf dem Tisch im Zimmer stand das in durchsichtiger Folie eingeschweißte Essen; zwei Scheiben Brot,
der Käse und die Margarine in spielzeuggroßen Verpackungen. Doch nur den obenauf liegenden Apfel
griff sie und biß sogleich davon ab. Dann schien sie die Tabletten im Medikamentenschälchen nachzu-
zählen, schüttete ruckartig, mit zurückgeworfenem Kopf, die Pillen in sich hinein, spülte mit kaltem Tee
alles auf einmal hinunter und drehte sich nach mir um. ”Willst du auch was essen?” wich sie aus.
”Nein, laß nur. . . ” - ”Ach, komm, du hast doch den ganzen Nachmittag nichts gegessen; ich schmiere
dir schnell ein Brot mit.” Schon riß sie mit den schlanken Fingern die Folien geübt auf, entnahm das
Plastikbesteck und bestrich die dünnen Scheiben. ”Fertig!” rief sie, als wäre ihr etwas Seltenes noch
einmal geglückt. Der achtlos zusammengeschobene Müll lag neben ihr auf dem Tisch. Mit dem linken
Unterarm fegte ich plötzlich alles davon und ging fort. Noch Stunden später streifte ich durch den
Anstaltspark und blickte zu ihrem erleuchteten Fenster auf, ehe ich von der Telefonkabine in der Vorhalle
noch einmal mit ihr sprach. Fast meinte ich das einsame Schrillen des Telefons durch die Wände
geistern zu hören. ”Ja, hallo?” - ”. . . ” - ”Wer ist denn da?” - ”. . . ” - ”Aber was war denn vorhin mit dir los?”

...

Auszüge aus  " Requiem "
© Thomas Werk  ·  1998