Thomas  Werk

 

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T u s c h e z e I c h n u n g   e I n e s   u n b e k a n n t e n   M e I s t e r s


Verso

Mehrere Figuren steigen über abgestufte flache Gesteinsschichten. Eine Figur ist in dem starken Geschiebe der übrigen Masse zu Boden gefallen, doch geht deren Bewegung unvermindert weiter. Sie stehen hart und wirr ineinander; eine der vorderen Figuren scheint flüchtig nach dem Knieenden zu sehen, dessen Kopf schmerzvoll und müde zurückfällt, ähnlich dem eines Toten. Vom Gesicht ist fast nichts zu sehen, doch zeigen die herabhängenden Arme unter dem lang fallenden Faltenwurf des Gewandes die Gebärde der Ergebung an. Für die Darstellung wurden nur wenige sichtbare Linien verwendet und so setzt sich die Figur stark vor der dunkel wogenden Masse ab. Innerhalb der hingeworfenen Umrißzeichnung wurde mit verschiedenen Möglichkeiten der Linie experimentiert. Es gibt waagerechte, durchbrochene Strichelungen, Kreise, die wie Gelenke unter dem mantelartigen Überwurf sitzen und zwei dunkle, daumengroße Verwischungen. Das innere Getriebe dieser wie Zeichen eingesetzten Mittel, stellt aber in der Gesamtschau sofort die plastische Form klar. Hier zeigt sich, daß es sich nicht um kraftloses Zusammensinken, sondern schweigenden Zusammenbruch handelt. Der Vortrag enthält in allem nur das Notwendige und doch zieht er seine feierliche Wirkung gerade daraus, daß er mit den schlichtesten Mitteln genau die Summe aller Schmerzen dieser Figur gibt; am eindringlichsten vielleicht in der dem Betrachter zugewandten, vom Ärmelstoff verhüllten linken Hand. Auf dem Gelenk scheint sich die Figur abzustützen, denn die empor gerissenen und weit auseinander gespreizten Finger deuten unter dem gespannten Stoff an, daß sie sich schon im nächsten Augenblick zur Faust schließen müssen. Dieses Motiv erscheint wie eine Variation auf den ebenso fast unsichtbaren, weit zurückgeworfenen Kopf. Auffällig ist dabei, daß der Kopf anatomisch zur Vertikalen der linken Hand zu weit über und hinter der hervorspringenden Schulter sitzt. Doch tritt dadurch nicht ein Unvermögen in dem Dargestellten zutage, vielmehr oszilliert der Ausdruck um so stärker zwischen den Polen der Erschöpfung und Verzweiflung.
In ganz freier Linienführung, hier skizzenhaft und dort wieder in zunehmender Verdichtung, verteilt sich dahinter der dunkle Block drängender Gestalten. Im wuchtigen Fortschreiten in der Horizontalen über ein Drittel des Blattes begriffen, sind die einzelnen Figuren kaum auseinander zu bringen. Überall Überschneidungen der Silhouetten, kaum Differenzen in den nur  erahnbaren  sackartigen Umhängen und die Köpfe bleiben unter Kapuzen verborgen. Nur an einer Figur sind die geschlossenen Augen darunter zu sehen; ein überlegener Sucher, der in geheimen Tiefen forscht. Die ganze Gruppe kalt entschlossen und ohne klärendes Licht ausgeführt. Hier einer, der auf einer eisernen Flöte spielt, da einer, der die Hände an den weit aufgerissenen Mund hält und Gebrüll oder Geheul ausstößt, den scheinbar Tauben um ihn herum entgegen, die unbeirrt Steine oder kleine Trommeln gegeneinander schlagen. Das alles angeführt von einem, der ein Boot in die Höhe stemmt. Einer zeigt direkt darauf. In seiner Nähe steht einer, ernst und unnachgiebig, mit einem schweren Baumstumpf über der Schulter. Daneben sind drei aus der Gruppe in einem Haufen weißer Wolken verborgen. Ihre Bewegungsfülle ist nur durch die weit auseinander gestellten Füße zu ahnen. Darüber das vogelartige Gebilde, das aus dem Wolkennebel ragt. Tief liegende, verwirrt blickende Augen, ein aufgerissener Schnabel, aus dem Dampf fährt und dem das Wort Rot eingeschrieben ist. Die Flügel sind als eine Art mechanisches Gerüst gegeben, von dem einzelne Federn abstehen. An dieser Stelle ist die Zeichnung wohl mit jetzt abgeblaßter schwarzer Kreide verstärkt gewesen. Spuren von Eisentinte in verschiedenen Dichten. Dahin geschwundene Farbpigmente, teils mit dem Papier oxydiert. Ruinöser Erhaltungszustand. Stockfleckig. Dennoch das ganze undurchdringliche Geschehen in packender Verkürzung dargestellt. Vielleicht ist es ein Kampf, aus dem sich das enthäutete Tier mit letzter Kraft zu befreien versucht; vielleicht aber ist die ganze Szenerie hier auch einfach unvollendet belassen worden. Große, schlichte Farbflächen, nicht durch Linien begrenzt, stehen einer geradlinigen Zeichnung gegenüber. Diese zeigt das Wesentliche, die Drehungen und Wendungen innerhalb des Gemenges. Es ist, als ob das Ganze doch hingestellt wird, das Verstehen aber ist durch die unauflösbare Wolkenmenge abgeriegelt. In den Einzelheiten ist alles ganz klar, in der Gesamtschau jedoch, sperrt sich alles gegeneinander ab. Es ist keine Erstarrung, doch ebenso wenig ein aufgewirbelter Fluß. Das Auge kann nichts bis zu einer Art Vollendung rekonstruieren; kurz davor bricht die Zeichnung ab und wird auch nicht wieder aufgenommen. Abweisende Ratlosigkeit verbreiten die ungestümen Schiebungen.
Über der bewegten Linie dieser Gruppe beginnt eine schwarz geäderte, fast bis an den oberen Bildrand reichende, rechteckige Fläche. Sie lastet auf den Figuren wie Höhlengestein. Die Szene befindet sich also möglicherweise in einem tiefen Bergtrichter und die feinen Äderungen könnten die Wasserläufe durch die Steinschichten bezeichnen. Das würde erklären, warum diese, in sich zwar geschlossene, aber für das Gesamtblatt doch unförmig auf der rechten oberen Bildhälfte angebrachte Darstellung, wie ein Wehr. den strudelnden Blick in die eigentliche Bildmitte wieder zurück wirft. Erstens geschieht das durch den gewaltigen Druck, den die schwarze Fläche auf die Figuren ausübt und zweitens, durch das von einem Strang ausgehende, wirr verzweigte Wasserlaufgeflecht, das auf das Bildinnere gerichtet ist. Da ist nun das Folgende asymmetrisch angesetzt.
Darstellungen von Wirbeln, (Wasser?), Fellen, Holzmaserungen, Faltenwürfen, Brückenkonstruktionen, Gefäße, Käfige, Vogelfedern, Mütze, eine Figur knietief im Wasser stehend auf einen Stab gestützt, Geweih, Hammer und ein metallenes Meßinstrument. Das ganze kreisförmig angeordnet und ornamentartig durch locker fallende Seile miteinander verwoben. Felle, Federn, Maserungen und Instrumente teils naturalistisch; alles andere frei und skizzenhaft aufgefaßt. Einiges überschneidet sich, anderes einzeln und mit Schatten hinterlegt. Über der mittigen Figur ein an den Rändern unterschiedlich eingerückter Textblock in verschiedenfarbiger Tinte. Wahrscheinlich auf unterschiedliche Zeiten zu datieren. Oberer Abschnitt in Braun, unterer in Schwarz:
"Daher sagen wir, daß es so dastehen soll, daß kein Raum da sein, und auch nichts da ist, worin etwas wirken kann. Denn ist Raum da, besteht Unterschiedenheit. Darum, und es soll nichts da sein, als unwesenhaftes Wesen und Sein ohne Dasein. Nichts, als das Wesen, das ewig ist, und das Wesen, das zeitlich ist. Dort kann niemals etwas ersterben und niemals etwas beginnen, alles ist ewig gewesen und soll ewig bleiben. Aber was in der Zeit ist, das soll sterben und zunichte werden, denn es muß verderben. Da ist Raum ohne Raum, Ursache seiner selbst, weder ab- noch zunehmend, unbewegliches Sein, das alle Dinge bewegt. Es ist nicht nötig, dies zu verstehen."
Zusammenfassend läßt sich die rätselhafte Stelle am ehesten noch, als durch reiche Gegensätze fein ausbalancierte Lebendigkeit charakterisieren, abgeschlossen durch die verhaltene Kraft des Schriftbildes.
Zur linken Seite des Blattes, folgt eine in freien Rhythmen komponierte Figurengruppe. Nur in Schwarz und Weiß gehalten, wenige Binnenschatten und dadurch insgesamt eher ein silbriges Grauweiß. Allgemein gedämpft, zusammen genommen und durchgebildet. Große Beruhigung zu der daneben liegenden, fast apokalyptischen Zeichnung.
Das Hauptmotiv liegt im System, der immer wieder ineinander fortgeleiteten Bewegungen der Figuren. Anscheinend versuchen sie gemeinsam einen für den Betrachter unsichtbaren Arbeitsprozeß zu bewerkstelligen. So sind acht Figuren in der Rückenansicht gegeben, teilweise vornüber gebeugt, teilweise mit aufgerichteten Armen. Sie scheinen in einer Art Kreis um einen Gegenstand herum zu stehen, daran erkennbar, daß zwischen den Rückenfiguren zwei Frontalfiguren eingefügt sind.
Es sind grotesk lachende, verwitterte Gesichter mit stierendem Blick, im Ausdruck von martialischer Blödigkeit. Mann und Frau. Aus beiden scheint alles innere Leben gewichen zu sein und ihr einziger Antrieb ist ihre schäumende Gier; gespenstisch durch die Feinheit des Bleistiftes wiedergegeben. Die übrigen Figuren, sofern sie die Hände unterhalb ausstrecken, sind skizzenhaft und mit der Tusche ausgeführt. Auch sie scheinen in großer Hast und Gier an etwas auf dem Boden Liegendem zu reißen. Die bewegten Arme gehen alle in diese Richtung. Figuren mit erhobenen Armen umfassen mit beiden Händen Stangen oder Knüppel, zum Schlag ausholend. Es ist aber nicht klar einzusehen, ob diese nun auf die Umstehenden einprügeln wollen oder auf das am Boden Liegende einschlagen müssen. Soweit ist es aber klar, daß hier alle in großer Anstrengung beteiligt sind. Und auch, wenn die Gruppe nach oben hin bogig geschlossen bleibt, an den Rändern und im Zentrum des Geschehens klaffen tiefe unbezeichnete Abschnitte aus streng geometrischen Formen. Vielecke in Kreisen, Pyramiden mit dreieckigen Grundflächen, Kegel, Zylinder, zwei Kreise um denselben Mittelpunkt, Kugel mit einer einbeschriebenen kleineren Kugel, Quadrate mit geteilten Strecken, Würfel von einer Kugel umschlossen, Ikosaeder, gleichfalls umschlossen und mit einbeschriebenen Zehneck, vier proportional angeordnete Strecken, Parallelogramme. Die Punktbezeichnungen teilweise über den Figuren. Innerhalb der Körper gestrichelte Linien. Kein Weg scheint hier hinein zu führen. Wie ein Orakel ist die Geometrie in die Lebendigen eingezeichnet. Es ist auch vollkommen unklar, in welchem Zusammenhang das miteinander steht und es kann auch nicht begründet werden, da keine erklärenden Formeln oder Werte mitgegeben sind.
Dennoch, der große Gegensatz von freier und exakter Darstellung bekommt in der hier vorgetragenen Vereinigung eine stille Tiefe, wie sie nur voraussehendem Wissen eigen ist. Wie in einem Rätsel wird hier alles aus sich selbst heraus angedeutet und eine Lösung kann wohl auf einem vorgegebenen Weg nicht ermittelt werden. Der Versuch, eine Figur mit einem geometrischen Körper als verbundene Einheit zu betrachten, scheitert und ebenso ist eine komplexe Auflösung des Ganzen unmöglich. Es bleiben die Formen mit verborgenem Inhalt zurück. Mit kalter Intensität wird eine sorgfältige Forschung vorgetragen, deren Ergebnisse hier in möglicherweise verschlüsselter Form niedergelegt wurden. Durch das Übereinander und Ineinander entsteht aber erst jene geheimnisvolle Doppeldeutigkeit, in die sich der Betrachter hineinbohren muß, will er nicht länger im gezeichneten Schatten dieser Mauer verbleiben. Es ist fast so, als wäre das, was zu sehen ist, nicht zu sehen und das, was nicht zu sehen ist, greifbar. Grausige Genauigkeit und mitleidloses Handeln sind hier auf` s Unheimlichste vereinigt.
Darüber befindet sich eine mit stark verdünnter Tusche ausgeführte Studie eines phantastischen Tieres mit gefiederten Flügeln. Kopf mit länglicher, aufgerissener Schnauze, Zunge gerollt und heraushängend, geblähte Nüstern und triefende, unter Wülsten verborgenen Augen. Das ganze Antlitz stark behaart und über der Stirn ein abnorm gedrehtes Gehörn. Körperumriß mit wenigen schwungvollen und teils unterbrochenen grauen Linien ausgeführt. Das Gefieder der Flügel mit der Feder in rötlicher Tusche naturalistisch dargestellt. In der Haltung, durch die kraftvoll zurück gesetzten Tatzen und den vorgewölbten Brustkorb, ist wohl eine drohende Angriffsgebärde erfaßt. Das Dargestellte sehr flüchtig hingeworfen; die dunklen Hauptakzente liegen nur auf dem brüllenden Kopf und den schlagenden Flügeln. Dennoch liegt hier der Reiz gerade in der scheinbar unschlüssigen Bearbeitung durch verschiedene Zeichenmittel und dem Fallenlassen einer durchgebildeten Gesamtdarstellung.

Insgesamt handelt es sich demnach möglicherweise um ein vorbereitendes Studienblatt, obwohl sich doch eine uneindeutige Gesamteinheit zwischen den Darstellungen einstellt, die durch rhythmische Überschneidungen und Versetzungen erzeugt wird. Und auch, wenn ein konkretes Bindeglied fehlt, wirken die eingezeichneten Flächen keineswegs voneinander isoliert, sondern eher durch in die Flächen hinein ragende Risse aufgesprengt. Daher wirkt auch das rechts unten frei belassene, von den Darstellungen eingerahmte Viertel, weit mehr, als eine im Lauf der Zeit verloren gegangene, doch ehemals bearbeitete Fläche und sie trägt damit zur nicht zu entschlüsselnden Einheitlichkeit des Blattes entschieden bei. Und damit ist das Blatt beendet.

'
Recto

Pinselzeichnung in Grau und Weiß auf blau grundiertem Papier. An den Rändern fleckig und gesprenkelt. Im linken, oberen Drittel vier Portraitentwürfe in wechselnder perspektivischer Ansicht.
Figur A: Portrait eines alten Mannes mit fast waagerecht erhobenem Kopf, von rechts gesehen. Das Auge ist verschlossen, das weiße Haar herabhängend, der Mund einen Spalt geöffnet. Unter dem Haarkranz ist der Schädel mit einem einzigen schwungvollen Halbkreis bis zur hervortretenden Stirnwölbung beschrieben. Darunter eingebettet liegt in dunklen Schatten das geschlossene Auge. Wie ein Bergrücken erhebt sich darüber in senkrechter Verkürzung die Nase. Mund und Kinn schließen sich in abfallender Linie an. Durch den nach oben gerissenen Kopf tritt die angespannte Halsmuskulatur stark hervor. Das große Ohr ist in der Waagerechten gegeben und korrespondiert als stärkste Binnenform mit der kräftigen Umrißlinie der Nase. Es ist fast mittig eingesetzt , anatomisch falsch, aber für das Portrait auf diesem Platz von ungeheurer Wirksamkeit.
Der Kopf ist erhoben, doch der Mann sieht nicht hin. Der Kopf ist senkrecht erhoben, doch der Mann neigt sein Ohr nirgendwo hin. Der Mund ist geöffnet, doch es dringt kein Ton heraus. Schmerzliche Ruhe steht auf dem Gesicht eingefroren. Es scheint, als zöge etwas Unabwendbares über die Figur hinweg.
Der Wangenknochen springt hervor und darunter liegt eine tiefe Höhlung. Die Haut ist straff gespannt. Die Schatten sind durch sich überlagernde Kreuzschraffuren gegeben; auf der Stirn, der Nase, den Wangenknochen, der Unterlippe und der Rundung des Kinns sind in Weiß schmale Lichtreflexe angebracht. Große Feinheit in der Ausführung; Ausdruck inniger Stille. Die Verwendung dieser vorbereitenden Studie ist unbekannt.
Figur B: Gebeugte, in verschiedene Decken und Umhänge eingehüllte Frauenfigur. Tiefe Schatten in den gerafften Stoffen, aus denen schützend die in Gegenrichtung vor dem Gesicht übereinander gehaltenen Hände ragen. Die Silhouette wird durch den niedergehaltenen Kopf und die erhöhte rechte Schulter erzeugt. Unter den angewinkelten Armen fließen die Stoffbahnen fast gerade  herab. Die Figur ist nicht vollständig ausgeführt und so bleibt unklar, ob sie steht oder kniet. Eindeutig aber ist hier eine Trauernde gegeben; tiefer Schmerz in verhaltener Eindringlichkeit, allein, durch die unnatürlich leicht vor dem Gesicht gehaltenen Hände. Weder das Haar noch Einzelheiten des Gesichtes sind weiter zu sehen; alles ist von dichten Stofflagen umschlossen und nur die Zartheit der Hände deutet auf eine junge Frau. Der Handrücken und die ausgestreckten Finger sind in Frontalansicht dargestellt; sie sind kaum gekrümmt und nur der kleine Finger ist jeweils leicht abgespreizt. Die Knochen des Handgelenkes liegen vom zurück geschobenen Gewand entblößt. Die Falten des Überwurfes werden im Hauptakzent, ganz gleich, ob seitlich oder nach unten fallend, von der dunkelsten Stelle unterhalb des Hände zum verdeckten Gesicht hingeführt. Und obwohl es sich ja um fallenden Stoff handelt, ist er dadurch eigentlich nur in seiner Gegenrichtung, aufsteigend zu den Händen hin, zu sehen. Ebenso verhält es sich mit dem Halbkreisbogen vom ausgestreckten Hals über die leicht erhöhte Schulter zum gerundeten Oberarm und den hängenden Stoffbahnen des hoch oben angewinkelten Unterarmes bis zum hervortretenden Handgelenk. Auch dieser führt den Blick in die zentrale Dunkelheit. Nicht anders ist auch der dorthin gewendete Kopf zu verstehen, dessen klarer Halbbogen den der Schulter auf fast waagerechter Linie noch einmal wiederholt und der das Gleichgewicht der Figur bis an diesen äußersten rechten Rand verlagert, bis genau zu dem Punkt, da es sich sonst auflösen müßte. Aber auch dann ziehen die aus der zentralen Dunkelheit fallenden Stoffmassen die Figur wieder zur Zentralachse zurück. Die gesamte geschlossene Form schlingt die Figur wieder in sich hinein, abgeschirmt von allem Äußerlichen.
Figur C: Kopf eines Greises mit Barett; die rechte Hand an der Schläfe. Pinselzeichnung mit Weißhöhung. Das Portrait, in leichter Draufsicht, ist das weitaus größte dieser Gruppe, eingebettet zwischen Figur B, teilweise deren Faltenwürfe überschneidend, und Figur D. Die große Stoffkappe sitzt schräg auf dem Kopf und ist verbeult. Darunter quillt das schlohweiße Haar wallend heraus und geht in das mächtige, ebenso weiße Barthaar über. Die Stirn ist von tiefen schrundigen Falten überzogen; wellenartige Querfalten bis an die Senkrechtfalten zwischen den Augen. Ein eigentümlich freies und zugleich fest gefügtes Liniengebilde, das die starre Lebendigkeit alter Haut andeutet. Die fast monoton weißgrau gehaltene Fläche ist von der linken eingefallenen und dunklen Schläfe begrenzt; rechts, von der Außenkante der Hand mit dem aufgestellten kleinen Finger. Davon abgehend die borstigen, bogenförmigen Augenbrauen. Tief herab gesenkt liegen die eingesunkenen kleinen Augen, von den ellipsenförmigen Lidern bedeckt. Schwere Tränensäcke und verästelte Fältelungen treten aus den stark beschatteten Partien hervor. Einzig auf den Augenlidern liegt schwaches Licht. Dazwischen, ganz hell, die grobe, knollenartige Nase. Links und rechts davon, über den Wangenknochen, mäandern weitere, tiefe Hautfalten; unter dem linken Auge vielleicht vernarbt. Mit gewaltigen Wellenlinien, wie ein tosender Wasserfall, beginnt dann das alles bedeckende lange, weiße Barthaar. Nur eine genaue Linie der Mundspalte wird darunter noch gezeigt. Alles übrige aber sind Drehungen, Wirbel, Wendungen, Strudel, Hervorquellendes, Brodelndes, Aushöhlungen, Zusammenfließendes, Gespaltenes und Öffnungen des eisgrauen Bartes. Und auch das seitlich unter der Kappe hervorquellende Haupthaar, umschließt den Schädel in dieser Art vollkommen, bis es am Barthaar aufstößt. Daran anschließend ist durch einen einzigen dunklen und fetten Pinselstrich der Kragen gemacht. Die Schulterlinie ist nur schwach und kurz angedeutet. Wucht und Einfachheit treten hier zusammen, die große Form und das feine Detail bringen einen träumenden oder erblindeten alten Seher hervor.
Figur D: Studie eines Kopfes mit weit aufgerissenem Mund in Frontalansicht. Der Dargestellte ist brüllend oder lachend in höchster Erregung gezeigt; der Kopf ist weit zurück gerissen. Zu sehen ist eigentlich nur der große offene Mund, Zähne, Zunge und die dunkle Rachenhöhle. Darüber erhebt sich die Nase, leicht schief und mit unterschiedlich großen Nasenlöchern. Von der oberen Rundung der Nase gehen links und rechts die Linien der wulstigen Stirnknochen aus, unter denen ganz flach die Augen eingebettet sind. Hinter der oberen Abschlußlinie beginnt das wirr umher fliegende Haar, gerade so, als wäre die Bewegung eines schüttelnden Deliriums festgehalten.
Wofür aber steht in dieser , wahrscheinlich für ein größeres Bild konzipierten Gruppe, ein solches Thema? Auch zeichnerisch ist die Figur gänzlich anders behandelt, als die übrigen. Es fehlt vollkommen die sparsame Ernsthaftigkeit, durch die sich die vorausgehenden Portraits auszeichnen. Hier ist nichts mit einer willentlich gezügelten Hand ausgeführt; alles gilt dem Einfangen der rohen Grimasse: zitternde, übereinander gelegte Linien, teilweise verbessert und beinahe unachtsam gesetzt; ein Auge dunkel verkleckst, das andere aber mit schneeweißer Pupille, ebenso an den Nasenlöchern, eins ist verschattet, das andere nur durch eine krakelige Umrißlinie bezeichnet und so wirkt es, als wäre der Nasenflügel dort angefressen. Die Zähne unter der dicken Oberlippe sind entgegen der Anatomie angeordnet; die großen Schneidezähne befinden sich an den Stellen der Eckzähne und auch die übrigen Zähne stehen ungerade hervor. Seltsam leblos aber liegt die Zunge flach hinter den unteren Zähnen, unbrauchbar, um Worte im Schrei hervorzustoßen und ebenso tot für ein übermütiges Gelächter. Ein alles verschlingender, schwarzer Abgrund steht dieser Kopf am Ende der fast auf gleicher horizontaler Linie angeordneten Figuren.
Die übrige Bildfläche ist mit anatomischen Tierstudien angefüllt. Feder mit Tinte, Bleistift, weiß gehöht. Bildnis eines Uhu mit einem erhobenen Flügel. Nur der Kopf ist im Federkleid bis zum Hals gegeben. Darunter beginnt die genaue anatomische Zeichnung der Knochen, Sehnen und des Muskelfleisches. Die Knochen sind durchgängig weiß herausgehoben; tiefschwarze Schatten sind um die Gelenke gelegt und erzielen eine starke Raumwirkung, obwohl das Skelett nicht durchsichtig gegeben, sondern der von seinen Federn entkleidete Vogel im Fleisch dargestellt ist. Große Helligkeit gegenüber dem dunklen Kopf. Hier sind die Federn bis in ihre feinsten Nuancen durchgearbeitet und der leicht nach oben gehende Blick unterstreicht die unrealistische Lebendigkeit des ganzen Ausdrucks. Die Darstellung der gespannten Muskeln und Sehnen über den hellen Knochen des erhobenen Flügels zeigt ebenso wenig Tod und Verwesung, als das Fleisch in seiner warmen Lebendigkeit; es ist, als ob der Vogel nur eben auch den anderen Flügel zu heben bräuchte, um, so wie er ist, abzustoßen. So genau deutet die Stellung der Knochen und das Hervorspringen einzelner Muskelpartien auf die lebendige Kraft der Kreatur. Freigelegt ist in dieser Studie die Triebfeder der großen Harmonie, Werden und Sterben, Kommen und Gehen.
In identischer Ausführung befinden sich noch ein in der Flugbewegung festgehaltener Milan und eine liegende, trächtige Hirschkuh auf dem Blatt; der Vogel mit ausgebreiteten Schwingen in der Draufsicht und die Kuh mitsamt ihren den Blicken freigegebenen Föten in der Seitenansicht. Das Haupt des Muttertieres ist aufgeworfen, als wittere es die Gefahr.


Schluß

Auf dem rechten, äußeren Rand steht dichtgedrängt der Textblock: Am 10.Mai des Jahres verschied heute der Meister fünfundachtzigjährig, nachdem wir ihn in der Frühe noch frisch angetroffen hatten. Er zeigte aber weder Appetit noch Durst, ließ alles stehen und setzte sich daran, die Anweisungen für sein Ableben aufzuschreiben: Ich will nicht, daß nach meinem Tod Trauerkleidung getragen wird und Wehklagen und Trauerzüge durchgeführt werden. Die begonnene Arbeit soll fortgesetzt und alles den Nachfolgern ausgehändigt werden. Den Schülern, die die Werkstatt verlassen wollen, gebt ihren Teil und alles Notwendige mit auf ihrem Weg. Bis wir uns wiedersehen, paßt auf euch auf! Danach legte er sich hin und verschied noch in derselben Nacht. Die Schüler versammelten sich um den Toten und konnten die Tränen nicht zurückhalten. Am anderen Tag hauten sie die Inschrift in Stein:

Der Berg liegt eingestürzt;
das Wasser fließt nicht mehr daraus.
Die Wälder sind zerbrochen;
der Wind geht frei hindurch.

Danach entsannen sich alle der letzten Worte des Meisters und gingen stumm auseinander. Am folgenden Abend wurde ein großes Feuer aufgeschichtet und alles weltliche Hab und Gut ging in den Flammen darin auf. Daraufhin trennten sich die Schüler und jeder bekam eine Zeichnung des Meisters als Zeugnis seiner Schülerschaft übertragen. Der Morgen kam und die Fortgehenden sahen sich noch lange nach dem lodernden Feuer um. Über den Bergen standen den ganzen Tag über große Wolken und aus den Wäldern drangen laut die Schreie der Vögel in das verlassene Tal. Hoch stieg die dunkle Rauchwolke hinan.

© Thomas Werk  ·  1998