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T u s c h e z e I c
h n u n g e I n e s u n b e k a n n t e
n M e I s t e r s
Verso
Mehrere Figuren steigen über abgestufte flache Gesteinsschichten.
Eine Figur ist in dem starken Geschiebe der übrigen Masse zu
Boden gefallen, doch geht deren Bewegung unvermindert weiter. Sie
stehen hart und wirr ineinander; eine der vorderen Figuren scheint
flüchtig nach dem Knieenden zu sehen, dessen Kopf schmerzvoll
und müde zurückfällt, ähnlich dem eines Toten.
Vom Gesicht ist fast nichts zu sehen, doch zeigen die herabhängenden
Arme unter dem lang fallenden Faltenwurf des Gewandes die Gebärde
der Ergebung an. Für die Darstellung wurden nur wenige sichtbare
Linien verwendet und so setzt sich die Figur stark vor der dunkel
wogenden Masse ab. Innerhalb der hingeworfenen Umrißzeichnung
wurde mit verschiedenen Möglichkeiten der Linie experimentiert.
Es gibt waagerechte, durchbrochene Strichelungen, Kreise, die wie
Gelenke unter dem mantelartigen Überwurf sitzen und zwei dunkle,
daumengroße Verwischungen. Das innere Getriebe dieser wie
Zeichen eingesetzten Mittel, stellt aber in der Gesamtschau sofort
die plastische Form klar. Hier zeigt sich, daß es sich nicht
um kraftloses Zusammensinken, sondern schweigenden Zusammenbruch
handelt. Der Vortrag enthält in allem nur das Notwendige und
doch zieht er seine feierliche Wirkung gerade daraus, daß
er mit den schlichtesten Mitteln genau die Summe aller Schmerzen
dieser Figur gibt; am eindringlichsten vielleicht in der dem Betrachter
zugewandten, vom Ärmelstoff verhüllten linken Hand. Auf
dem Gelenk scheint sich die Figur abzustützen, denn die empor
gerissenen und weit auseinander gespreizten Finger deuten unter
dem gespannten Stoff an, daß sie sich schon im nächsten
Augenblick zur Faust schließen müssen. Dieses Motiv erscheint
wie eine Variation auf den ebenso fast unsichtbaren, weit zurückgeworfenen
Kopf. Auffällig ist dabei, daß der Kopf anatomisch zur
Vertikalen der linken Hand zu weit über und hinter der hervorspringenden
Schulter sitzt. Doch tritt dadurch nicht ein Unvermögen in
dem Dargestellten zutage, vielmehr oszilliert der Ausdruck um so
stärker zwischen den Polen der Erschöpfung und Verzweiflung.
In ganz freier Linienführung, hier skizzenhaft und dort wieder
in zunehmender Verdichtung, verteilt sich dahinter der dunkle Block
drängender Gestalten. Im wuchtigen Fortschreiten in der Horizontalen
über ein Drittel des Blattes begriffen, sind die einzelnen
Figuren kaum auseinander zu bringen. Überall Überschneidungen
der Silhouetten, kaum Differenzen in den nur erahnbaren sackartigen
Umhängen und die Köpfe bleiben unter Kapuzen verborgen.
Nur an einer Figur sind die geschlossenen Augen darunter zu sehen;
ein überlegener Sucher, der in geheimen Tiefen forscht. Die
ganze Gruppe kalt entschlossen und ohne klärendes Licht ausgeführt.
Hier einer, der auf einer eisernen Flöte spielt, da einer,
der die Hände an den weit aufgerissenen Mund hält und
Gebrüll oder Geheul ausstößt, den scheinbar Tauben
um ihn herum entgegen, die unbeirrt Steine oder kleine Trommeln
gegeneinander schlagen. Das alles angeführt von einem, der
ein Boot in die Höhe stemmt. Einer zeigt direkt darauf. In
seiner Nähe steht einer, ernst und unnachgiebig, mit einem
schweren Baumstumpf über der Schulter. Daneben sind drei aus
der Gruppe in einem Haufen weißer Wolken verborgen. Ihre Bewegungsfülle
ist nur durch die weit auseinander gestellten Füße zu
ahnen. Darüber das vogelartige Gebilde, das aus dem Wolkennebel
ragt. Tief liegende, verwirrt blickende Augen, ein aufgerissener
Schnabel, aus dem Dampf fährt und dem das Wort Rot eingeschrieben
ist. Die Flügel sind als eine Art mechanisches Gerüst
gegeben, von dem einzelne Federn abstehen. An dieser Stelle ist
die Zeichnung wohl mit jetzt abgeblaßter schwarzer Kreide
verstärkt gewesen. Spuren von Eisentinte in verschiedenen Dichten.
Dahin geschwundene Farbpigmente, teils mit dem Papier oxydiert.
Ruinöser Erhaltungszustand. Stockfleckig. Dennoch das ganze
undurchdringliche Geschehen in packender Verkürzung dargestellt.
Vielleicht ist es ein Kampf, aus dem sich das enthäutete Tier
mit letzter Kraft zu befreien versucht; vielleicht aber ist die
ganze Szenerie hier auch einfach unvollendet belassen worden. Große,
schlichte Farbflächen, nicht durch Linien begrenzt, stehen
einer geradlinigen Zeichnung gegenüber. Diese zeigt das Wesentliche,
die Drehungen und Wendungen innerhalb des Gemenges. Es ist, als
ob das Ganze doch hingestellt wird, das Verstehen aber ist durch
die unauflösbare Wolkenmenge abgeriegelt. In den Einzelheiten
ist alles ganz klar, in der Gesamtschau jedoch, sperrt sich alles
gegeneinander ab. Es ist keine Erstarrung, doch ebenso wenig ein
aufgewirbelter Fluß. Das Auge kann nichts bis zu einer Art
Vollendung rekonstruieren; kurz davor bricht die Zeichnung ab und
wird auch nicht wieder aufgenommen. Abweisende Ratlosigkeit verbreiten
die ungestümen Schiebungen.
Über der bewegten Linie dieser Gruppe beginnt eine schwarz
geäderte, fast bis an den oberen Bildrand reichende, rechteckige
Fläche. Sie lastet auf den Figuren wie Höhlengestein. Die
Szene befindet sich also möglicherweise in einem tiefen Bergtrichter
und die feinen Äderungen könnten die Wasserläufe
durch die Steinschichten bezeichnen. Das würde erklären,
warum diese, in sich zwar geschlossene, aber für das Gesamtblatt
doch unförmig auf der rechten oberen Bildhälfte angebrachte
Darstellung, wie ein Wehr. den strudelnden Blick in die eigentliche
Bildmitte wieder zurück wirft. Erstens geschieht das durch
den gewaltigen Druck, den die schwarze Fläche auf die Figuren
ausübt und zweitens, durch das von einem Strang ausgehende,
wirr verzweigte Wasserlaufgeflecht, das auf das Bildinnere gerichtet
ist. Da ist nun das Folgende asymmetrisch angesetzt.
Darstellungen von Wirbeln, (Wasser?), Fellen, Holzmaserungen, Faltenwürfen,
Brückenkonstruktionen, Gefäße, Käfige, Vogelfedern,
Mütze, eine Figur knietief im Wasser stehend auf einen Stab
gestützt, Geweih, Hammer und ein metallenes Meßinstrument.
Das ganze kreisförmig angeordnet und ornamentartig durch locker
fallende Seile miteinander verwoben. Felle, Federn, Maserungen und
Instrumente teils naturalistisch; alles andere frei und skizzenhaft
aufgefaßt. Einiges überschneidet sich, anderes einzeln
und mit Schatten hinterlegt. Über der mittigen Figur ein an
den Rändern unterschiedlich eingerückter Textblock in
verschiedenfarbiger Tinte. Wahrscheinlich auf unterschiedliche Zeiten
zu datieren. Oberer Abschnitt in Braun, unterer in Schwarz:
"Daher sagen wir, daß es so dastehen soll, daß
kein Raum da sein, und auch nichts da ist, worin etwas wirken kann.
Denn ist Raum da, besteht Unterschiedenheit. Darum, und es soll
nichts da sein, als unwesenhaftes Wesen und Sein ohne Dasein. Nichts,
als das Wesen, das ewig ist, und das Wesen, das zeitlich ist. Dort
kann niemals etwas ersterben und niemals etwas beginnen, alles ist
ewig gewesen und soll ewig bleiben. Aber was in der Zeit ist, das
soll sterben und zunichte werden, denn es muß verderben. Da
ist Raum ohne Raum, Ursache seiner selbst, weder ab- noch zunehmend,
unbewegliches Sein, das alle Dinge bewegt. Es ist nicht nötig,
dies zu verstehen."
Zusammenfassend läßt sich die rätselhafte Stelle
am ehesten noch, als durch reiche Gegensätze fein ausbalancierte
Lebendigkeit charakterisieren, abgeschlossen durch die verhaltene
Kraft des Schriftbildes.
Zur linken Seite des Blattes, folgt eine in freien Rhythmen komponierte
Figurengruppe. Nur in Schwarz und Weiß gehalten, wenige Binnenschatten
und dadurch insgesamt eher ein silbriges Grauweiß. Allgemein
gedämpft, zusammen genommen und durchgebildet. Große
Beruhigung zu der daneben liegenden, fast apokalyptischen Zeichnung.
Das Hauptmotiv liegt im System, der immer wieder ineinander fortgeleiteten
Bewegungen der Figuren. Anscheinend versuchen sie gemeinsam einen
für den Betrachter unsichtbaren Arbeitsprozeß zu bewerkstelligen.
So sind acht Figuren in der Rückenansicht gegeben, teilweise
vornüber gebeugt, teilweise mit aufgerichteten Armen. Sie scheinen
in einer Art Kreis um einen Gegenstand herum zu stehen, daran erkennbar,
daß zwischen den Rückenfiguren zwei Frontalfiguren eingefügt
sind.
Es sind grotesk lachende, verwitterte Gesichter mit stierendem Blick,
im Ausdruck von martialischer Blödigkeit. Mann und Frau. Aus
beiden scheint alles innere Leben gewichen zu sein und ihr einziger
Antrieb ist ihre schäumende Gier; gespenstisch durch die Feinheit
des Bleistiftes wiedergegeben. Die übrigen Figuren, sofern
sie die Hände unterhalb ausstrecken, sind skizzenhaft und mit
der Tusche ausgeführt. Auch sie scheinen in großer Hast
und Gier an etwas auf dem Boden Liegendem zu reißen. Die bewegten
Arme gehen alle in diese Richtung. Figuren mit erhobenen Armen umfassen
mit beiden Händen Stangen oder Knüppel, zum Schlag ausholend.
Es ist aber nicht klar einzusehen, ob diese nun auf die Umstehenden
einprügeln wollen oder auf das am Boden Liegende einschlagen
müssen. Soweit ist es aber klar, daß hier alle in großer
Anstrengung beteiligt sind. Und auch, wenn die Gruppe nach oben
hin bogig geschlossen bleibt, an den Rändern und im Zentrum
des Geschehens klaffen tiefe unbezeichnete Abschnitte aus streng
geometrischen Formen. Vielecke in Kreisen, Pyramiden mit dreieckigen
Grundflächen, Kegel, Zylinder, zwei Kreise um denselben Mittelpunkt,
Kugel mit einer einbeschriebenen kleineren Kugel, Quadrate mit geteilten
Strecken, Würfel von einer Kugel umschlossen, Ikosaeder, gleichfalls
umschlossen und mit einbeschriebenen Zehneck, vier proportional
angeordnete Strecken, Parallelogramme. Die Punktbezeichnungen teilweise
über den Figuren. Innerhalb der Körper gestrichelte Linien.
Kein Weg scheint hier hinein zu führen. Wie ein Orakel ist
die Geometrie in die Lebendigen eingezeichnet. Es ist auch vollkommen
unklar, in welchem Zusammenhang das miteinander steht und es kann
auch nicht begründet werden, da keine erklärenden Formeln
oder Werte mitgegeben sind.
Dennoch, der große Gegensatz von freier und exakter Darstellung
bekommt in der hier vorgetragenen Vereinigung eine stille Tiefe,
wie sie nur voraussehendem Wissen eigen ist. Wie in einem Rätsel
wird hier alles aus sich selbst heraus angedeutet und eine Lösung
kann wohl auf einem vorgegebenen Weg nicht ermittelt werden. Der
Versuch, eine Figur mit einem geometrischen Körper als verbundene
Einheit zu betrachten, scheitert und ebenso ist eine komplexe Auflösung
des Ganzen unmöglich. Es bleiben die Formen mit verborgenem
Inhalt zurück. Mit kalter Intensität wird eine sorgfältige
Forschung vorgetragen, deren Ergebnisse hier in möglicherweise
verschlüsselter Form niedergelegt wurden. Durch das Übereinander
und Ineinander entsteht aber erst jene geheimnisvolle Doppeldeutigkeit,
in die sich der Betrachter hineinbohren muß, will er nicht
länger im gezeichneten Schatten dieser Mauer verbleiben. Es
ist fast so, als wäre das, was zu sehen ist, nicht zu sehen
und das, was nicht zu sehen ist, greifbar. Grausige Genauigkeit
und mitleidloses Handeln sind hier auf` s Unheimlichste vereinigt.
Darüber befindet sich eine mit stark verdünnter Tusche
ausgeführte Studie eines phantastischen Tieres mit gefiederten
Flügeln. Kopf mit länglicher, aufgerissener Schnauze,
Zunge gerollt und heraushängend, geblähte Nüstern
und triefende, unter Wülsten verborgenen Augen. Das ganze Antlitz
stark behaart und über der Stirn ein abnorm gedrehtes Gehörn.
Körperumriß mit wenigen schwungvollen und teils unterbrochenen
grauen Linien ausgeführt. Das Gefieder der Flügel mit
der Feder in rötlicher Tusche naturalistisch dargestellt. In
der Haltung, durch die kraftvoll zurück gesetzten Tatzen und
den vorgewölbten Brustkorb, ist wohl eine drohende Angriffsgebärde
erfaßt. Das Dargestellte sehr flüchtig hingeworfen; die
dunklen Hauptakzente liegen nur auf dem brüllenden Kopf und
den schlagenden Flügeln. Dennoch liegt hier der Reiz gerade
in der scheinbar unschlüssigen Bearbeitung durch verschiedene
Zeichenmittel und dem Fallenlassen einer durchgebildeten Gesamtdarstellung.
Insgesamt handelt es sich demnach möglicherweise um ein
vorbereitendes Studienblatt, obwohl sich doch eine uneindeutige
Gesamteinheit zwischen den Darstellungen einstellt, die durch rhythmische
Überschneidungen und Versetzungen erzeugt wird. Und auch, wenn
ein konkretes Bindeglied fehlt, wirken die eingezeichneten Flächen
keineswegs voneinander isoliert, sondern eher durch in die Flächen
hinein ragende Risse aufgesprengt. Daher wirkt auch das rechts unten
frei belassene, von den Darstellungen eingerahmte Viertel, weit
mehr, als eine im Lauf der Zeit verloren gegangene, doch ehemals
bearbeitete Fläche und sie trägt damit zur nicht zu entschlüsselnden
Einheitlichkeit des Blattes entschieden bei. Und damit ist das Blatt
beendet.
'
Recto
Pinselzeichnung in Grau und Weiß auf blau grundiertem Papier.
An den Rändern fleckig und gesprenkelt. Im linken, oberen Drittel
vier Portraitentwürfe in wechselnder perspektivischer Ansicht.
Figur A: Portrait eines alten Mannes mit fast waagerecht erhobenem
Kopf, von rechts gesehen. Das Auge ist verschlossen, das weiße
Haar herabhängend, der Mund einen Spalt geöffnet. Unter
dem Haarkranz ist der Schädel mit einem einzigen schwungvollen
Halbkreis bis zur hervortretenden Stirnwölbung beschrieben.
Darunter eingebettet liegt in dunklen Schatten das geschlossene
Auge. Wie ein Bergrücken erhebt sich darüber in senkrechter
Verkürzung die Nase. Mund und Kinn schließen sich in
abfallender Linie an. Durch den nach oben gerissenen Kopf tritt
die angespannte Halsmuskulatur stark hervor. Das große Ohr
ist in der Waagerechten gegeben und korrespondiert als stärkste
Binnenform mit der kräftigen Umrißlinie der Nase. Es
ist fast mittig eingesetzt , anatomisch falsch, aber für das
Portrait auf diesem Platz von ungeheurer Wirksamkeit.
Der Kopf ist erhoben, doch der Mann sieht nicht hin. Der Kopf ist
senkrecht erhoben, doch der Mann neigt sein Ohr nirgendwo hin. Der
Mund ist geöffnet, doch es dringt kein Ton heraus. Schmerzliche
Ruhe steht auf dem Gesicht eingefroren. Es scheint, als zöge
etwas Unabwendbares über die Figur hinweg.
Der Wangenknochen springt hervor und darunter liegt eine tiefe Höhlung.
Die Haut ist straff gespannt. Die Schatten sind durch sich überlagernde
Kreuzschraffuren gegeben; auf der Stirn, der Nase, den Wangenknochen,
der Unterlippe und der Rundung des Kinns sind in Weiß schmale
Lichtreflexe angebracht. Große Feinheit in der Ausführung;
Ausdruck inniger Stille. Die Verwendung dieser vorbereitenden Studie
ist unbekannt.
Figur B: Gebeugte, in verschiedene Decken und Umhänge eingehüllte
Frauenfigur. Tiefe Schatten in den gerafften Stoffen, aus denen
schützend die in Gegenrichtung vor dem Gesicht übereinander
gehaltenen Hände ragen. Die Silhouette wird durch den niedergehaltenen
Kopf und die erhöhte rechte Schulter erzeugt. Unter den angewinkelten
Armen fließen die Stoffbahnen fast gerade herab. Die
Figur ist nicht vollständig ausgeführt und so bleibt unklar,
ob sie steht oder kniet. Eindeutig aber ist hier eine Trauernde
gegeben; tiefer Schmerz in verhaltener Eindringlichkeit, allein,
durch die unnatürlich leicht vor dem Gesicht gehaltenen Hände.
Weder das Haar noch Einzelheiten des Gesichtes sind weiter zu sehen;
alles ist von dichten Stofflagen umschlossen und nur die Zartheit
der Hände deutet auf eine junge Frau. Der Handrücken und
die ausgestreckten Finger sind in Frontalansicht dargestellt; sie
sind kaum gekrümmt und nur der kleine Finger ist jeweils leicht
abgespreizt. Die Knochen des Handgelenkes liegen vom zurück
geschobenen Gewand entblößt. Die Falten des Überwurfes
werden im Hauptakzent, ganz gleich, ob seitlich oder nach unten
fallend, von der dunkelsten Stelle unterhalb des Hände zum
verdeckten Gesicht hingeführt. Und obwohl es sich ja um fallenden
Stoff handelt, ist er dadurch eigentlich nur in seiner Gegenrichtung,
aufsteigend zu den Händen hin, zu sehen. Ebenso verhält
es sich mit dem Halbkreisbogen vom ausgestreckten Hals über
die leicht erhöhte Schulter zum gerundeten Oberarm und den
hängenden Stoffbahnen des hoch oben angewinkelten Unterarmes
bis zum hervortretenden Handgelenk. Auch dieser führt den Blick
in die zentrale Dunkelheit. Nicht anders ist auch der dorthin gewendete
Kopf zu verstehen, dessen klarer Halbbogen den der Schulter auf
fast waagerechter Linie noch einmal wiederholt und der das Gleichgewicht
der Figur bis an diesen äußersten rechten Rand verlagert,
bis genau zu dem Punkt, da es sich sonst auflösen müßte.
Aber auch dann ziehen die aus der zentralen Dunkelheit fallenden
Stoffmassen die Figur wieder zur Zentralachse zurück. Die gesamte
geschlossene Form schlingt die Figur wieder in sich hinein, abgeschirmt
von allem Äußerlichen.
Figur C: Kopf eines Greises mit Barett; die rechte Hand an der Schläfe.
Pinselzeichnung mit Weißhöhung. Das Portrait, in leichter
Draufsicht, ist das weitaus größte dieser Gruppe, eingebettet
zwischen Figur B, teilweise deren Faltenwürfe überschneidend,
und Figur D. Die große Stoffkappe sitzt schräg auf dem
Kopf und ist verbeult. Darunter quillt das schlohweiße Haar
wallend heraus und geht in das mächtige, ebenso weiße
Barthaar über. Die Stirn ist von tiefen schrundigen Falten
überzogen; wellenartige Querfalten bis an die Senkrechtfalten
zwischen den Augen. Ein eigentümlich freies und zugleich fest
gefügtes Liniengebilde, das die starre Lebendigkeit alter Haut
andeutet. Die fast monoton weißgrau gehaltene Fläche
ist von der linken eingefallenen und dunklen Schläfe begrenzt;
rechts, von der Außenkante der Hand mit dem aufgestellten
kleinen Finger. Davon abgehend die borstigen, bogenförmigen
Augenbrauen. Tief herab gesenkt liegen die eingesunkenen kleinen
Augen, von den ellipsenförmigen Lidern bedeckt. Schwere Tränensäcke
und verästelte Fältelungen treten aus den stark beschatteten
Partien hervor. Einzig auf den Augenlidern liegt schwaches Licht.
Dazwischen, ganz hell, die grobe, knollenartige Nase. Links und
rechts davon, über den Wangenknochen, mäandern weitere,
tiefe Hautfalten; unter dem linken Auge vielleicht vernarbt. Mit
gewaltigen Wellenlinien, wie ein tosender Wasserfall, beginnt dann
das alles bedeckende lange, weiße Barthaar. Nur eine genaue
Linie der Mundspalte wird darunter noch gezeigt. Alles übrige
aber sind Drehungen, Wirbel, Wendungen, Strudel, Hervorquellendes,
Brodelndes, Aushöhlungen, Zusammenfließendes, Gespaltenes
und Öffnungen des eisgrauen Bartes. Und auch das seitlich unter
der Kappe hervorquellende Haupthaar, umschließt den Schädel
in dieser Art vollkommen, bis es am Barthaar aufstößt.
Daran anschließend ist durch einen einzigen dunklen und fetten
Pinselstrich der Kragen gemacht. Die Schulterlinie ist nur schwach
und kurz angedeutet. Wucht und Einfachheit treten hier zusammen,
die große Form und das feine Detail bringen einen träumenden
oder erblindeten alten Seher hervor.
Figur D: Studie eines Kopfes mit weit aufgerissenem Mund in Frontalansicht.
Der Dargestellte ist brüllend oder lachend in höchster
Erregung gezeigt; der Kopf ist weit zurück gerissen. Zu sehen
ist eigentlich nur der große offene Mund, Zähne, Zunge
und die dunkle Rachenhöhle. Darüber erhebt sich die Nase,
leicht schief und mit unterschiedlich großen Nasenlöchern.
Von der oberen Rundung der Nase gehen links und rechts die Linien
der wulstigen Stirnknochen aus, unter denen ganz flach die Augen
eingebettet sind. Hinter der oberen Abschlußlinie beginnt
das wirr umher fliegende Haar, gerade so, als wäre die Bewegung
eines schüttelnden Deliriums festgehalten.
Wofür aber steht in dieser , wahrscheinlich für ein größeres
Bild konzipierten Gruppe, ein solches Thema? Auch zeichnerisch ist
die Figur gänzlich anders behandelt, als die übrigen.
Es fehlt vollkommen die sparsame Ernsthaftigkeit, durch die
sich die vorausgehenden Portraits auszeichnen. Hier ist nichts mit
einer willentlich gezügelten Hand ausgeführt; alles gilt
dem Einfangen der rohen Grimasse: zitternde, übereinander gelegte
Linien, teilweise verbessert und beinahe unachtsam gesetzt; ein
Auge dunkel verkleckst, das andere aber mit schneeweißer Pupille,
ebenso an den Nasenlöchern, eins ist verschattet, das andere
nur durch eine krakelige Umrißlinie bezeichnet und so wirkt
es, als wäre der Nasenflügel dort angefressen. Die Zähne
unter der dicken Oberlippe sind entgegen der Anatomie angeordnet;
die großen Schneidezähne befinden sich an den Stellen
der Eckzähne und auch die übrigen Zähne stehen ungerade
hervor. Seltsam leblos aber liegt die Zunge flach hinter den unteren
Zähnen, unbrauchbar, um Worte im Schrei hervorzustoßen
und ebenso tot für ein übermütiges Gelächter.
Ein alles verschlingender, schwarzer Abgrund steht dieser Kopf am
Ende der fast auf gleicher horizontaler Linie angeordneten Figuren.
Die übrige Bildfläche ist mit anatomischen Tierstudien
angefüllt. Feder mit Tinte, Bleistift, weiß gehöht.
Bildnis eines Uhu mit einem erhobenen Flügel. Nur der Kopf
ist im Federkleid bis zum Hals gegeben. Darunter beginnt die genaue
anatomische Zeichnung der Knochen, Sehnen und des Muskelfleisches.
Die Knochen sind durchgängig weiß herausgehoben; tiefschwarze
Schatten sind um die Gelenke gelegt und erzielen eine starke Raumwirkung,
obwohl das Skelett nicht durchsichtig gegeben, sondern der von seinen
Federn entkleidete Vogel im Fleisch dargestellt ist. Große
Helligkeit gegenüber dem dunklen Kopf. Hier sind die Federn
bis in ihre feinsten Nuancen durchgearbeitet und der leicht nach
oben gehende Blick unterstreicht die unrealistische Lebendigkeit
des ganzen Ausdrucks. Die Darstellung der gespannten Muskeln und
Sehnen über den hellen Knochen des erhobenen Flügels zeigt
ebenso wenig Tod und Verwesung, als das Fleisch in seiner warmen
Lebendigkeit; es ist, als ob der Vogel nur eben auch den anderen
Flügel zu heben bräuchte, um, so wie er ist, abzustoßen.
So genau deutet die Stellung der Knochen und das Hervorspringen
einzelner Muskelpartien auf die lebendige Kraft der Kreatur. Freigelegt
ist in dieser Studie die Triebfeder der großen Harmonie, Werden
und Sterben, Kommen und Gehen.
In identischer Ausführung befinden sich noch ein in der Flugbewegung
festgehaltener Milan und eine liegende, trächtige Hirschkuh
auf dem Blatt; der Vogel mit ausgebreiteten Schwingen in der Draufsicht
und die Kuh mitsamt ihren den Blicken freigegebenen Föten in
der Seitenansicht. Das Haupt des Muttertieres ist aufgeworfen, als
wittere es die Gefahr.
Schluß
Auf dem rechten, äußeren Rand steht dichtgedrängt
der Textblock: Am 10.Mai des Jahres verschied heute der Meister
fünfundachtzigjährig, nachdem wir ihn in der Frühe
noch frisch angetroffen hatten. Er zeigte aber weder Appetit noch
Durst, ließ alles stehen und setzte sich daran, die Anweisungen
für sein Ableben aufzuschreiben: Ich will nicht, daß
nach meinem Tod Trauerkleidung getragen wird und Wehklagen und Trauerzüge
durchgeführt werden. Die begonnene Arbeit soll fortgesetzt
und alles den Nachfolgern ausgehändigt werden. Den Schülern,
die die Werkstatt verlassen wollen, gebt ihren Teil und alles Notwendige
mit auf ihrem Weg. Bis wir uns wiedersehen, paßt auf euch
auf! Danach legte er sich hin und verschied noch in derselben Nacht.
Die Schüler versammelten sich um den Toten und konnten die
Tränen nicht zurückhalten. Am anderen Tag hauten sie die
Inschrift in Stein:
Der Berg liegt eingestürzt;
das Wasser fließt nicht mehr daraus.
Die Wälder sind zerbrochen;
der Wind geht frei hindurch.
Danach entsannen sich alle der letzten Worte des Meisters und
gingen stumm auseinander. Am folgenden Abend wurde ein großes
Feuer aufgeschichtet und alles weltliche Hab und Gut ging in den
Flammen darin auf. Daraufhin trennten sich die Schüler und
jeder bekam eine Zeichnung des Meisters als Zeugnis seiner Schülerschaft
übertragen. Der Morgen kam und die Fortgehenden sahen sich
noch lange nach dem lodernden Feuer um. Über den Bergen standen
den ganzen Tag über große Wolken und aus den Wäldern
drangen laut die Schreie der Vögel in das verlassene Tal. Hoch
stieg die dunkle Rauchwolke hinan.
© Thomas Werk · 1998 |